Himmelsdiebe by Prange Peter

Himmelsdiebe by Prange Peter

Autor:Prange, Peter [Prange, Peter]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Piper Verlag
veröffentlicht: 2010-06-28T22:00:00+00:00


9

Harry bog den Stacheldraht in die Höhe und kroch unter dem Zaun hindurch ins Freie. Kein Mensch nahm Anstoß daran, wenn ein Gefangener das Lager verließ, um einen Spaziergang zu machen. Gleichgültig schauten zwei Wachsoldaten zu, wie er den Feldweg hinauflief und allmählich aus ihrem Blickfeld verschwand. Seit dem Waffenstillstand hatten die Franzosen jegliches Interesse an ihren Schützlingen verloren. Manche Gefangene machten sogar Ausflüge nach Nîmes, um mal wieder in einem Café zu sitzen oder sich mit Lebensmitteln zu versorgen.

An einem Bach ließ Harry sich nieder und packte sein Malzeug aus. Eigentlich war es gleichgültig, wo er malte, er malte ja sowieso immer dasselbe Motiv. Während er mit dem Bleistift Lauras Gesicht skizzierte, plätscherte zu seinen Füßen der Bach. Wochenlang war er eingesperrt gewesen, jetzt war er zum ersten Mal wieder in Freiheit, unter offenem Himmel, und rings um ihn her war nichts als ein plätschernder Bach, hügelige Wiesen, blau verdämmernde Pinienwälder und wunderbar reine Bergluft.

Mit einem Seufzer schaute er von seiner Zeichnung auf. Durfte er hier bleiben? Oder war es verbrecherischer Leichtsinn, in der Obhut der Franzosen zu warten, bis die Nazis ihn holten? Als entarteter Künstler stand er auf der Liste der Deutschen, die die Nazis von den Franzosen zur Auslieferung begehrten, sicherlich sehr weit oben.

Unentschlossen beugte er sich wieder über sein Bild. In seinem ganzen Leben hatte er es gehasst, Entscheidungen zu treffen. Und jetzt hing von seiner Entscheidung sein Leben ab. Aus dem Lager zu fliehen war ein Kinderspiel. Jeden Tag hauten Dutzende seiner Kameraden ab, die meisten nach Marseille, in der Hoffnung, sich im Labyrinth der Hafenstadt unsichtbar zu machen oder dort ein Schiff für die Flucht übers Meer zu finden. Auch die spanische Grenze war angeblich immer noch offen. Allerdings verlangten die Spanier einen Pass, und Harrys Pass war in seinem Haus in Sainte-Odile, genauer: im Schlafzimmer, ganz genau: in der zweiten Wäscheschublade von oben.

»Bist du etwa feige?«

Harry zuckte zusammen. Für einen Moment hatte er geglaubt, Lauras Stimme zu hören. Hatte er schon Halluzinationen? Nein, ihre Frage war nur Ausdruck seiner jämmerlichen Angst. Laura hatte recht, er war feige, er hatte die Hosen schon jetzt gestrichen voll, wenn er an Flucht überhaupt nur dachte. Denn egal, wohin er fliehen würde, ob nach Marseille oder in Richtung Spanien– nirgendwo würde er seines Lebens sicher sein. Die französische Regierung im sogenannten freien Teil Frankreichs war genauso faschistisch wie die Nazi-Regierung in Deutschland– wenn ein Polizist ihn erwischte, ging es heim ins Reich. Und selbst wenn es ihm gelingen sollte, sich unbemerkt von der Polizei durchzuschlagen– auch vor der Bevölkerung hatte er allen Grund, sich zu fürchten. Ohne ordentliche Papiere würden die Franzosen ihn für einen versprengten Nazi halten, für einen Feind, und entsprechend würden sie ihn behandeln.

Harry schaute auf Lauras Bild. Würde er seine Windsbraut je wiedersehen? Die Situation war so ausweglos, dass Siegfried Cohen sich in Nîmes schon Blausäure besorgt hatte.

»Pssst«, machte es plötzlich in seinem Rücken.

Harry drehte sich um. Als er sah, was er sah, zweifelte er an seinem Verstand. Aus einem Gebüsch schaute ihm ein Gesicht wie ein Uhu entgegen, ein Mann mittleren Alters mit Halbglatze und Brille.



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